Joseph Martin Reichard

Vor 200 Jahren: Der Präsident der provisorischen Regierung der Pfalz wird geboren

Veröffentlicht am 10. Januar 2003
Porträtphotographie von Joseph Martin Reichard im Anzug, mit langem Kinnbart.
Joseph Martin Reichard

Zum 200. Mal jährt sich am 23. September 2003 der Geburtstag von Joseph Martin Reichard, eines engagierten Pfälzer Demokraten, der 1848/49 in der Frankfurter Paulskirche an der Ausarbeitung der Grundrechte des deutschen Volkes und der Reichsverfassung mitwirkte und anschließend der revolutionären provisorischen Regierung der Pfalz vorstand.

Joseph Martin Reichard wurde mitten in der „Franzosenzeit“ am 23. September 1803 in Gaugrehweiler geboren. Hier war sein Vater, der aus Frankenthal stammende Johann Franz Reichard, ein Freimaurer, kurze Zeit als Notar des Kantons Rockenhausen tätig, ehe die Familie nach Speyer übersiedelte. Von 1805 bis 1837 war Johann Franz Reichard Notar in Speyer. 1813/1814 hatte er sogar das Amt des Oberbürgermeisters von Speyer inne. Nach dem im Jahre 1817 erfolgten Tod der Mutter Joseph Martin Reichards, Maria Jacobina Seiffert, heiratete der Vater in zweiter Ehe Apollonia Gießen aus Deidesheim. Der junge Reichard besuchte das Speyerer Gymnasium, studierte dann Jura, zunächst in Heidelberg, später in Würzburg und Erlangen. Anschließend besuchte er die französischen Rechtsschulen in Dijon und Paris. Von dort – so Helmut Renner – habe er liberales und republikanisches Gedankengut mit nach Hause gebracht. 1826 erhielt er seine Zulassung als Anwalt. Seine ersten praktischen Erfahrungen sammelte er in der Kanzlei des Frankenthaler Anwalts Georg Jakob Stockinger, der später dem bayerischen Landtag angehörte.

Reichard wurde – wie sein Vater – Notar und erhielt sein erstes Notariat 1831 in Kusel. Hier heiratete er seine Cousine Catharina Nockin. 1837 zog er mit Frau und vier Kindern nach Speyer, um das Notariat seines Vaters zu übernehmen. In Speyer urkundete er bis zum 11. Juni 1849. Über mehrere Jahre gehörte er dem Rat der Stadt Speyer an und soll hier eine freie Gemeinde gegründet haben. Bei der Bildung der Bürgerwehr in Speyer wurde Reichard zu deren Oberst ernannt.

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung wurde Joseph Martin Reichard am 30. April 1848 für den Wahlkreis Kirchheimbolanden, den fünften der insgesamt zehn pfälzischen Wahlbezirke, gewählt. In den Tagen vor der Wahl hatte der „Kreisausschuß“ des pfälzischen Volksvereins elf Männer, die als konsequente Verfechter liberalen Gedankenguts bekannt waren, zur Wahl vorgeschlagen. Bis auf einen wurden sie alle gewählt. Als weiterer pfälzischer Abgeordneter vertrat der Frankenthaler Anwalt Stockinger einen fränkischen Wahlkreis. Alle elf pfälzischen Abgeordneten gehörten in der Nationalversammlung den vier zur Linken zählenden Clubs an. Reichard war, wie auch der Kaiserslauterer Rechtspraktikant und Journalist Nikolaus Schmitt und der Zweibrücker Advokat Friedrich Schüler, Mitglied des „Club Donnersberg“, der die äußerste Linke vertrat.

Nachdem am 18. Januar 1849 die von der Nationalversammlung ausgearbeiteten Grundrechte in Frankfurt proklamiert worden waren, fanden in der Pfalz vielerorts Feierlichkeiten statt. Bei der von der Volkswehr in Speyer inszenierten Feier sprach Joseph Martin Reichard, ohne eine Lobeshymne anzustimmen. Er begrüßte die Erklärung der Grundrechte, kritisierte aber die alten „Diplomatenkünste“, denen es gelungen sei, zum Vorteil der dynastischen Interessen und der bisher ungerecht Bevorzugten die Grenzen der Zugeständnisse so eng als möglich zu ziehen.

Wenige Wochen nach der Ablehnung der Reichsverfassung durch den bayerischen König wurde am 2. Mai 1849 in Kaiserslautern der „Landesausschuß für Verteidigung und Durchführung der deutschen Reichsverfassung“ gebildet, in das neben Reichard die Parlamentsmitglieder Friedrich Schüler, August Culmann und Nikolaus sowie die Landtagsabgeordneten Dr. Greiner, Dr. Hannitz, Dr. Hepp und Notar Schmidt, der Landstuhler Ökonom Heinrich Didier und der Frankenthaler Rechtskandidat Fries gewählt wurden. Sein Abgeordnetenmandat in der Nationalversammlung trat Reichard an den protestantischen Pfarrer von Einselthum, Adolph Ernst Berckmann, ab. Die Vertreter der aus direkter Wahl hervorgegangenen 28 pfälzischen Kantone beschlossen am 17. Mai 1849 in Kaiserslautern mit 15 gegen 13 Stimmen die Bildung der „Provisorischen Regierung der Pfalz“. Bei der Wahl der Mitglieder der provisorischen Regierung erhielt Reichard die meisten, nämlich alle 28 Stimmen. Er wurde zum Präsidenten und Kriegsminister der in der Kaiserslauterer Fruchthalle residierenden Regierung gewählt, der es in den folgenden Wochen allerdings nicht gelingen sollte, die breite Masse der pfälzischen Bevölkerung für ihre revolutionären Ziele zu gewinnen, der es darüber hinaus an finanziellen Mitteln mangelte, eine gute Freiheitsarmee aufzustellen. Die am 13. Juni 1849 in die Pfalz einmarschierenden preußischen Truppen drängten die schlecht ausgerüsteten Freischärler mitsamt den führenden Köpfen des Pfälzer Aufstandes über den Rhein.

Das oberste pfälzische Gericht begann bald darauf, gegen die Mitglieder der Provisorischen Regierung und mehrere Hundert weitere Personen zu ermitteln. In der „Anklag-Akte“ wurde Reichard vorgeworfen, „Miturheber der bewaffneten Rebellion und der Verbrechen gegen die innere Sicherheit des Staates“ gewesen zu sein. Er wurde unter anderem beschuldigt, „im Interesse der rebellischen und beziehungsweise hochverrätherischen Gewalt, Erpressungen zum Nachtheile verschiedener Einwohner von Ludwigshafen verübt, sich an mehreren Verhaftungen betheiligt, Soldaten in Speyer und Zweibrücken zur Fahnenflucht verleitet“ zu haben.

Als der Anklageakt „gegen Joseph Martin Reichard und Consorten“ 1850 in Zweibrücken angelegt wurde, befand sich Reichard längst in den USA. Nach der Niederschlagung des Aufstandes war er über Baden in die Schweiz geflüchtet, wo er sich einige Wochen aufhielt, bis er sich zur Emigration in die Vereinigten Staaten entschloss. Im August 1849 stellte ihm der amerikanische Generalkonsul in der Schweiz, Goundie, dessen wohlwollendes Verhältnis zu den deutschen Revolutionären in der Schweiz bekannt war, ein Geleitschreiben aus und bat darin, Reichard nicht nur frei und ungehindert passieren, sondern ihm und seiner Familie größtmögliche Unterstützung zuteilwerden zu lassen.

Im Oktober 1849 verließ Reichard von Le Havre aus Europa für immer. In seinem Nachruf heißt es später, dass er „fast mittellos“ in New York angelangt sei, „da er sein Vermögen der Sache der Freiheit geopfert hatte.“

Zunächst ließ er sich bei Verwandten in Wilkesbarre, Pennsylvanien, nieder. Dann zog er mit seiner Familie nach Philadelphia, wo sich 1850 auch Nikolaus Schmitt ansiedelte, mit dem ihn zeitlebens eine enge Freundschaft verband. Zusammen gaben sie eine Zeitlang eine deutsche Tageszeitung heraus.

In Philadelphia eröffnete Reichard ein Notariatsbüro, betrieb zeitweise ein Hotel und über längere Zeit die General-Agentur der deutschen Lebensversicherungs-Gesellschaft Germania. Er war Mitglied der Deutschen Gesellschaft von Philadelphia und engagierte sich im Komitee zur Gründung eines deutschen Hospitals in Philadelphia. 1860 wurde er zum Präsidenten des Verwaltungsrats des Hospital-Vereins gewählt, der bereits im folgenden Jahr mit dem Bau des Krankenhauses beginnen konnte.

Joseph Martin Reichard starb am 14. Mai 1872 in Philadelphia. Neben seinem Freund Nikolaus Schmitt wurde er auf dem South Laurel Hill Friedhof bestattet. Fritz Schütz, der Sprecher der freien Gemeinde Philadelphia, schilderte in seiner Trauerrede

das bewegte und so freiheits- und geistesstarke Leben des Verstorbenen, der im alten Vaterlande keine Gefahr scheute, wo es galt, die Prinzipien der Volksfreiheit zu verfechten, und der vor allen Dingen auch in der hiesigen Politik deutscher Ueberzeugungstreue und Prinzipienreinheit den ihr zukommenden Einfluß und den Sieg über Lüge und Corruption zu erkämpfen strebte.

Joseph Martin Reichards Porträt, gemalt 1869 von A. Kientzle, hängt heute im Lankenau Hospital am Rande Philadelphias, dessen Gründung und Entwicklung als „Deutsches Hospital“ er ganz entscheidend beeinflusst hatte.

Roland Paul


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19. Jahrhundert Migration Revolution 1848/49 USA

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